BOA reboot – vWJ-Syndrom

Macht jemand die strukturierte Gerinnungsanamnese? Erschreckender Weise beschränken sich, wenn man Mäuschen in der Prämedambulanz spielt, viele in der Sprechstunde auf Fragen wie “Aber im Alltag blutet’s nicht mehr, wenn Sie sich schneiden oder so?”. Das reicht nicht! Patienten werden oft trotz zurückliegender Indexereignisse lapidar mit einem Nein antworten, ausser es handelt sich um bekannte diagnostizierte Gerinnungsleiden oder man hakt eben nach. Gezielte Fragen sind das Mittel zum Glück. Und: die gute Anamnese ist dem Labor mindestens ebenbürtig.

  • StrukturierteGerinnungsanamnese:
    • Gibt es in Ihrer Familie Fälle einer Blutungsneigung?
    • Kommt es vermehrt oder ohne Auslöser zu…
      • Nasenbluten?
      • punktförmigen Blutungen?
      • blauen Flecken?
      • Zahnfleischbluten?
    • Haben sie den Eindruck, dass es vermehrt oder ungewöhnlich lang blutet, wenn…
      • …sie sich verletzen/ schneiden (z.B. Schürfwunden/ Rasur)?
      • …sie ihre Regel haben?
    • Traten bei früheren Eingriffen/ Operationen/ beim Ziehen eines Zahnes ungewöhnlich lange/ starke Blutungen auf?
    • Musste Ihnen bereits einmal im Rahmen einer Operation Blut oder Blutbestandteile transfundiert werden?
    • Nehmen Sie Schmerzmittel/ Antirheumatika ein?
    • Nehmen Sie blutverdünnende Medikamente? (Explizit auch mit Substanz und (!) Namen nennen: Aspirin, ASS, Heparine, also Antithrombose- oder Blutverdünnungsspritzen, Clopidogrel, Plavix, Eliquis, Xarelto…)

Aber eigentlich wollte ich woanders hin. Hämorrhagische Diathesen sind unser Thema und die weitaus häufigste hereditäre Blutungsneigung ist mit etwa 1% das Von-Willebrand(-Jürgens-)Syndrom. Namenlich mit dem vWF-Faktor assoziiert, hat es auch genau mit diesem zu tun. Wir erinnern uns. Der vWF findet sich in Endothel (Weibel-Palade-bodies) und den alpha-Granula der Thrombozyten. Im Blut bildet er grosse Multimere. Funktionell ‘schützt’ er Faktor VIII (Co-Faktor von FIX bei der Aktivierung von FX auf dem intrinsischen Weg) vor Degradation und aktiviert über Glykoproteinen (v.a GPIb) der Thrombozytenmembran selbige im Rahmen der primären Hämostase, verursacht also Adhäsion, Degranulation und Pseudopodienbildung. Heisst: ohne vWF keine effektive Thrombozytenaktivierung und verminderte FVIII-Funktion in der intrinsischen Kaskade.

Klinisch folgt daraus in der extremsten Form eine Kombination aus Epistaxis, verlängerter Blutungszeit, allgemein mukokutanen (HNO/ Zahnarzt!) Blutungen (vWF) und Weichteil-/ Gelenkblutungen (FVIII-Fkt, nur Typ III). Im Alltag bleiben aber die weitaus meisten Fälle unauffällig und benötigen allenfalls bei operativen Eingriffen eine supportive Therapie. Bei Frauen ist die Menorrhagie/ Peripartalblutung oft das einzige und ggf. erste Symptom! Gerade bei unklaren starken und anhaltenden Blutungen peripartal an ein vWS denken!

Nun erst zu des Mediziners liebstem Kinde, der Systematik: Es geht um ein Gerinnungsprotein. Davon kann es zu wenig geben (Typ I) oder nix (Typ III). Unser Protein kann funktionell nicht wirksam sein (Typ II) und alles kann genetisch bedingt oder erworben sein. Entsprechend dieser Ursachen gibt es eine (irgendwie ungelenke) Typeneinteilung:

  • vWS Typ I (am häufigsten, >4/5) – milde Verminderung, strukturell unauffällig, autosom. dom.,
  • vWS Typ II (Strukturdefekte des vWF) a/b/m autosom. dom., n autosom. rez.
    • IIa – reduzierte Thrombozytenfunktion, abnorme Multimere
    • IIb – erhöhte Affinität zu GPIb in der Thrombozytenbindung KEINE DESMOPRESSINWIRKUNG
    • IIm – reduzierte Thrombozytenfunktion mit normalen Multimeren
    • IIn – verminderte FVIII-Bindung (damit abbaubedingter FVIII-Mangel!), normale Multimere
  • vWS Typ III (seltenste, schwerste Form) -ausgeprägter Mangel/ Fehlen, strukturell per se unauffällig.

Die Diagnostik und Therapieplanung ist aufgrund der Interpretationsbreite Zentrumssache. vWF und FVIII unterliegen erheblichen Schwankungen und als Akutphaseproteine multiplen z.B. hormonellen Einflüssen. Gerade die Abgrenzung zur Hämophilie A (FVIII) kann schwierig sein. Basistests sind vWF-Konzentration, funktionelle Aktivität (als Ristocetin-Cofaktoren- und Kollagenbindungsaktivität), Bestimmung der Multimere und Funktionstests wie die ristocetininduzierte Plättchenaggregation (RIPA). Ich erspare euch absichtlich Normalwerte, da eben die Interpretation NICHT nur nach cut-off Werten funktioniert und falsche Schlüsse möglich macht. Wenn jemand fragt, Ristocetin ist übrigens ein relativ toxisches Antibiotikum, das Thrombos unter vWF-Anwesenheit agglutinieren lässt. Ja, Prüfungsunsinn.

Therapeutisch eingesetzt werden beim vWS Tranexamsäure, Desmopressin und Faktorenpräparate.

  • Tranexamsäure wird bei bekanntem Syndrom prophylaktisch als Tablette (mit Zentrum absprechen! 500-1500 mg 2-3x/d p.o.) verabreicht, im Blutungsnotfall in den üblichen Dosierungen i.v. (10-15 mg/kg, ggf. rep.). Der Wirkmechanismus ist supportiv, also nicht ursächlich!
  • Desmopressin ist ein Vasopressinanalogon. Die Kreislaufwirkung ist aber nicht, was uns primär interessiert, dazu sind die Dosierungen zu gering. Allenfalls die Nebenwirkungen Flush, Kopfschmerz und Tachykardie kommen aus dieser Ecke. Ein antidiuretischer Effekt kann zu Überwässerung und Hyponatriämie gerade peripartal führen. In einer Dosierung von 0,3 μg/kg (i.v., s.c. oder intranasal) führt Desmopressin zu einer vWF-Freisetzung aus den Endothelien mit akut etwa 3-, bis 5-facher Erhöhung von vWF/FVIII. Wiedermal ist der Effekt individuell und schwächt sich schnell ab (Stichwort Speicherentleerung/ Tachyphylaxie). Desmopressin wirkt nur bei den VWS-Typen I, IIa/m/n. Desmopressin ist unwirksam bei vWS Typ IIb (keine vWF-Funktion) und vWS Typ III (kein vWF).
  • Wo Desmopressin nicht wirkt (s.o.) oder nicht gegeben werden kann, kommen vWF/FVIII-Präparate zum Einsatz, beispielsweise Haemate® P. Dosierung und Therapiesteuerung orientieren sich an der VWF-Funktion, gemessen über die Ristocetincofaktoraktivität und die FVIII-Konzentration und gehören aufgrund häufiger thrombembolischer Komplikationen in die Hände eines Hämostaseologen! Als Hausnummer in der akuten Blutung bewegen wir uns bei 30-60 IU/kg initial und 20-40 IU/kg alle 8-24 Stunden.

Das erworbene vWS bin ich euch noch schuldig geblieben. Grundsätzlich wäre es bei Ausschaltung des Auslösers reversibel. Wo tritt es auf? V.a. im Rahmen lymphoproliferativer Erkrankungen, z.B. durch Antikörper gegen vWF, aber auch durch direkte Tumorbindung. Auch bei bestimmten scherkraftassoziierten kardiovaskulären Erkrankungen wie VSD, Aortenstenose, HOCM und pulmonalarteriellem Hypertonus kommt es zum vWF-Verlust durch Multimerschädigung. Im Rahmen von Veränderungen der Thrombozyten, im Rahmen myeloproliferativer Erkrankungen oder hepato- und nephropathisch assoziiert. Zur verminderten Synthese kann eine hormonelle Komponente, z.B. im Sinne einer Hypothyreose beitragen. Zuletzt können Medikamente Auslöser sein, beispielsweise Valproat oder Gyrasehemmer. In der akuten Blutung hilft uns wieder Desmopressin 0.3 μg/kg oder vWF/VIII-Präparate 30-100 IU/kg. Da Ätiologie und Wirkung unterschiedlich sind, sind die Werte als Hausnummer zu verstehen und müssen laborseitig und über Rücksprache mit Hämostaseologen evaluiert werden. Auch hier ist Tranexamsäre in üblicher Dosierung ein treuer Freund.

Was merken wir uns? vWS ist die häufigste erbliche Blutungsneigung. Im unklaren Blutungsnotfall dran denken und 0,3 pro Desmopressin und 0,5-1g Tranexamsäure versuchen. Sonst gehört das Management in die Hände der Hämostaseologie.

Addendum: Ja, richtig gelesen, beim Typ IIb besteht eine erhöhte Affinität zum Rezeptor. Deshalb mausern sich die Thrombos und die Multimerclearance ist deutlich erhöht.




Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.