“Muskelrelaxantien sind Sympathikolytika für schlechte Chirurgen” sagte mein alter Oberarzt gerne. Oder in der Orthopädie: “Werter Herr Kollege, die Acetylcholinrezeptorendichte der Bandstrukturen an der Hüfte genügt nicht, um ihren Mangel an Expertise und Talent wegzurelaxieren” ja, Subversion von den Meistern lernen… an Tag 9 geht’s um Muskelrelaxantien.
Muskelrelaxantien erlauben chirurgische Eingriffe, die in Mononarkosen oder ohne Muskelrelaxantien aufgrund der dann notwendigen Narkosetiefe nur sehr risikohaft möglich wären. Schauen wir uns die Güdelstadien an, dann wird klar, erst am Übergang zur Asphyxie/ Vergiftung sind in Äthermononarkose schwere abdominalchirurgische Eingriffe möglich. Heute erlaubt die Kombination von Narkotika, Opioiden und eben Muskelrelaxantien eine ausreichende neurologische Dämpfung mit guten Operationsbedingungen zu kombinieren, ohne dass der Patient aufgrund der Narkosetiefe kardiopulmonal gefährdet sein muss – Kombinieren reduziert Nebenwirkungen. Auf unserer Seite des Tuches verbessern oder erlauben die Relaxantien die Intubation indem die Exposition vereinfacht und die Stimmlippen eröffnet werden, so dass das Risiko von Verletzungen an Kehlkopf oder Stimmlippen sinkt.
Aber wie? Nun, der pharmakologische Mechanismus ist ein einfacher:
Nichtdepolarisierende Muskelrelaxantien blockieren dosisabhängig in einem kompetitiven Antagonismus nikotinerge Acetylcholinrezeptoren der motorischen Endplatte und führen zu einer passageren, schlaffen Lähmung. Succinylcholin als Partialantagonist führt über eine dauerhafte Rezeptoraktivierung zu einem Depolarisationsblock.
Puh. Ok, Pharma. Von vorne: So ein AP flitzt den motorischen Nerv entlang und löst eine Freisetzung von Acetylcholin aus den Vesikeln der präsynaptischen Membran aus. Das Acetylcholin diffundiert die knapp 50 nm über den synaptischen Spalt und bindet an die nikotinergen Acetylcholinrezeptoren. Als nichtselektiver ligandengesteuerter Ionenkanal macht der nun auf und lässt Natrium rein und Kalium raus, damit kommt’s zu Membrapotentialveränderungen, nämlich einer Depolarisation, die ab einer Schwelle wiederum potentialgesteuerte Natriumkanäle auslöst und zack – flitzt unser Muskelpotential los Richtung T-Tubuli und Aktinomyosin… irgendwann demnächst zuckt`s dann. Unser Kanalprotein findet sich physiologisch nur an der motorischen Endplatte nur bei Denervierung kommt es zur Ausbildung von Rezeptoren über die gesamte Muskelmembran (interessant im Hinblick auf die hyperkaliäme Nebenwirkung von Succinylcholin!). Aufgebaut ist unser Rezeptor aus 5 Subunits (2xα, β, γ und δ), von denen die αs Acetylcholin und andere Liganden binden. Zwei α-Subunits heisst, wir brauchen 2 Acetylcholine zur Aktivierung oder z.B. ein Succinylbischolin, das zwei α-Bindungsstellen gleichzeitig treffen kann.
Unsere Relaxantien gibt es in zwei Hauptgruppen:
- nichtdepolariserende Muskelrelaxantien (NDMR)
- depolarisierende Muskelrelaxantien (DMR)
In Kurzform blocken die NDMR den Rezeptor dosisabhängig ohne Folge im Sinne von Muskelaktivität durch Bindung an die Bindungsstelle des Acetylcholins, wir haben hier einen kompetitiven Antagonismus (NDMR). Acetylcholin konkurriert also mit den NDMR um den Rezeptor.
DMR erlauben sozusagen einen Schuss, bevor der zugehörige Ionenkanal offen bleibt und erstmal nicht mehr aktiv wird – deshalb Depolarisationsblock (DMR) oder partieller Antago-/Agonismus, denn die Membran wird initial aktiv. Deshalb das ausgeprägte Faszikulieren als tatsächliche Muskelaktivität unter Succinylcholin. Da unser Freund Succinylcholin als einziger noch klinisch eingesetzter Vertreter der DMR dem Acetylcholin recht ähnlich ist, wirkt er auch an muskarinergen Rezeptoren im Vegetativum, mit entsprechenden Wirkungen z.B. im Sinne von Rhythmusstörungen (z.B. sinusvermittelte Bradykardien, Ersatzrhythmen und ähnliche Erfreulichkeiten). Prinzipiell bindet Succinylcholin an dieselbe Bindungsstelle wie Acetylcholin, diffundiert aber langsamer davon ab, bevor es von Plasmacholinesterasen deaktiviert wird.


Alltagspharmakologisch bestimmen 3 Werten unser Relaxans – Anschlagszeit, Dosis (als ED95) und (klinische) Wirkdauer.
Die Anschlagszeit ist insbesondere für die RSI, also Ileuseinleitung interessant. Mit 30 bis 60 Sekunden eignen sich nur Succinylcholin und Rocuronium (in einer höheren als üblichen Dosierung) für die Crushintubation. Alle anderen (und Rocuronium in “üblicher” Einleitungsdosis) benötigen etwa 2 bis 3 Minuten bis zur ausreichenden Relaxationstiefe für die Intubation und sind damit zu langsam für die Bedürfnisse bei der RSI, wo die schnelle Intubation ja etwaig auf dem Weg in die Lunge befindlichem Mageninhalt den Weg abschneiden soll.
Die Dosis ist substanzspezifisch und wird als ED95 angegeben. Die effektive Dosis bei der 95% der Wirkung – also der vollständigen Relaxation – erzielt sind. Man kann sich merken:
- Intubationsdosis = 2x ED95
- RSI-Dosis = 3-4x ED95 (nur für Succinylcholin und Rocuronium sinnvoll)
Und warum muss ich mir die ED95 merken und nicht die Intubationsdosis? Es gibt da so ein paar pharmakologische Indices, die man gelegentlich mal antrifft, z.B. den therapeutischen Index als Quotient aus der LD5, also der Dosis bei der 5% der Probanden versterben und der ED95. Und zum Beispiel ist die Intubationsdosis eben 2x ED95, die Intubationsdosis in der RSI 3-4x ED95… und so fort… sind wir ehrlich, wir kennen die Intubationsdosis und wissen um den Zusammenhang Intubationsdosis = 2x ED95.
Zu guter Letzt unterscheiden wir kurzwirksame (Succinylcholin, Mivacurium) und mittellang bis lang wirksame Substanzen (Atracurium, Rocuronium, Vecuronium und Pencuronium). In Tabellen finden wir die klinische Wirkdauer als DUR25 und die Gesamtwirdauer als DUR95, wobei wir letztere erst einmal getrost vergessen dürfen. Mivacurium wird man mit etwa 15 Minuten Wirkdauer für kurze Eingriffe einsetzen, Succinylcholin ist zunehmend verpöhnt, aber prinzipiell für kurze Eingriffe nutzbar. Für den OP kommen heute fast nur noch Atracurium und Rocuronium zum Einsatz. Ersteres hat den Vorteil weitgehend organunabhängig (v.a. als cis-Atracurium als “Hoffmann-Abbau”) zu zerfallen, Rocuronium wirkt tendentiell länger und ist für die RSI einsetzbar, ausserdem gibt es ein nebenwirkungsarmes spezifisches Antidot (Sugammadex!). Die Wirkdauer bewegt sich bei beiden um 40 Minuten. Pancuronium wirkt vagolytisch und mit anderthalb Stunden deutlich länger und kommt aufgrund dieses Profils (“lang und kardiostabil”) gelegentlich noch in der Kardioanästhesie zum Einsatz.
Viele Eigenschaften hängen am Substanzprofil. Succinylcholin als einziges verwendetes DMR verursacht potentiell MH-Krisen, Hyperkaliämien bei Immobilisierten und Nierengeschädigten und Rhythmusstörungen. Ausserdem macht die Faszikuliererei Muskelkater. Auch Histaninliberation mit Flush und Bronchospasmen werden beschrieben. Bei den NDMR, die keine MH-Trigger sind, unterscheiden wir Benzoylisochinoline mit v.a. Histaminliberation (Mivacurium! Fast nicht bei cis-Atracurium) und Sterioidderivate (Rocuronium, Vecuronium, Pancuronium), bei denen es nicht zu einer Histaminliberation kommt. Dafür hemmen sie den Histaminabbau via Histamin-N-Methyltransferase (ohne wesentliche Alltagsrelevanz für den Nichthistaminintoleranten). Für Rocuronium (und Vecuronium) existiert ein spezifisches Antidot – Sugammadex oder Bridion. Ansonsten kann man entweder Zeit bis zum Abbau vergehen lassen oder im Sinne des kompetitiven Mechanismus Acetylcholin erhöhen, zum Beispiel durch Acetylcholinesteraseinhibitoren wie Neostigmin. Als Engramm ist cis-Atracurium nebenwirkungsarm und organunabhängig!

Messen wollen wir die Wirkung unserer Relaxantien auch irgendwie. Der unentspannt fluchende Chirurg reicht als Monitoring schlicht aus Gründen der Verlässlichkeit nicht aus. Der Wunsch den Bandapparat der Hüftkapsel über den Grad der manuellen und intellektuellen Fähigkeiten des Operierenden hinaus zu relaxieren wird immer unerfüllt bleiben.
Was wir brauchen ist ein Relaxometer, also ein Gerät, dass uns etwas über den Entspannungsgrad der Muskulatur sagt. Die wesentlichen Masszahl ist dabei der TOF. TOF steht für Train-of-Four(-Stimulation). Was passiert dabei? Wir schicken zunächst einmal Ströme definierter Stromstärke und Frequenz über Elektroden zu einem zumindest teilweise motorischen Nerven. Typischer Messort ist dabei der distale Unterarm ulnarseits auf Höhe der Handgelenksbeugefalte, also der distale Verlauf des Nervus ulnaris. Was wir sehen wollen ist eine motorische Antwort des Musculus adductor pollicis, also ein Wippen des Daumens. Es eignen sich auch andere Messorte, falls z.B. aus operationstechnischen Gründen abgewichen werden muss. Wichtig zur Quantifizierung ist, dass es sich um einen supramaximalen Reiz handelt. Supramaximal bedeutet, dass alle motorischen Fasern unseres Wahlnervs erregt werden, um entsprechend eine quantitativ verwertbare motorische Antwort zu generieren. Die Reizstärke liegt am Nervus ulnaris bei etwa 40-60 mA, eine Polyneuropathie kann hier höhere Werte oder gar einen anderen Messort nötig machen. Üblicherweise erfolgt die Messung mithilfe eines am Daumen angebrachten piezoelektrischen Akzeleromyographiemonitorings, das die Auslenkung des gereizten Muskels misst. Wir schicken also wiederholt eine 4er-Serie von Einzelstromreizen der Stärke 40 bis 60 mA und einer Frequenz von 2 Hertz (also alle 500 ms einen “box-shaped” Reiz mit 0,2 ms Dauer) zu unserem Nervus ulnaris und messen die Auslenkung am Daumen. Heraus kommen Werte der Qualität 0/4 (“Null von vier”) bis 4/4 (“Vier von vier”). Sobald wir vier Reize haben, geben wir noch die T4/T1-Ratio an, also das Verhältnis der Ausschläge des vierten zum ersten Schlag in Prozent (also beispielsweise 4/4, 65%). Und was sagt uns das? Wir haben also eine bestimmte Anzahl nikotinerger Rezeptoren, die wir kompetitiv hemmen wollen. Erst ab einer Rezeptorbesetzung von über 70 Prozent sieht man ein sog. “fading”. Fading bedeutet, beginnend mit der 4. Reizantwort nehmen unsere Auslenkungen langsam ab, bis nacheinander der 4,. 3., 2. und schliesslich letzte Schlag ausfallen. Ab etwa 95% Rezeptorbesetzung fallen alle Schläge aus (0/4).

Für das übliche chirurgische Tun reichen 1 bis 2 von vier Schlägen, gelegentlich einmal – v.a. zur Intubation – sind 0/4 sinnvoll. Bei Succinylcholin übrigens erfassen wir nur den Ausfall, kein fading!
Wollen wir nachrelaxieren, sollte man sich bewusst machen, dass der Grossteil der Rezeptoren noch besetzt ist, wenn wir 1/4 sehen noch bis 90 Prozent! Soll heissen, oft reichen – gerade am Ende der OP – eine halbe ED95, ggf. sogar weniger zur suffizienten Relaxation!
Wollen wir nun extubieren, messen wir den TOF zur Sicherung einer ausreichenden Erholung der Muskelfunktion. Dabei wünschen wir uns eine ausreichende Erholung mit 4/4 und mindestens 90% T1/T4 zur Extubation.
Macht euch bewusst, dass verschiedene Muskeln verschieden auf die Relaxantien reagieren. Heisst, der Adduktor pollicis und das Zwerchfell, bzw. die Rachenmuskulatur, die den Atemweg tonusseitig offenhält korrespondieren nur recht wenig mit den jeweiligen Relaxierungsgraden! Soll heissen: alles unter 4/4 und 90% bietet ein gesatteltes Restrisiko für Überhänge. Zu PTC, DB, single twitch, etc. findet ihr eigene Artikel.
Take home messages
- Succinylcholin nur einmalig geben und nicht bei MH, Immobilisation, kaputter Niere oder Verbrennungspatienten
- Intubationsdosis 2x ED95 – RSI-Dosis 3-4x ED95 – Repetitionsdosis 0,25-0,5x ED95
- RSI-Relaxantien sind Succinylcholin oder Rocuronium in der Dosierung 1 mg/kg
- Intubieren bei 0/4, Extubieren bei 4/4 mit T4/T1-ratio >90%
- Rocuronium kann man schnell mit Sugammadex antagonisieren, cis-Atracurium ist nebenwirkungsarm und organunabhängig!