Regen, Champagner und Dankbarkeit

Es beginnt zu regnen in Nottwil am Sempacher See. Dicke, einzelne Tropfen schlagen kleine Krater in die Mischung aus Staub und Pollen auf dem warmen Asphalt. Dieser spezielle Geruch für den das Deutsche keinen eigenen Begriff zu kennen scheint, füllt die Luft und etwas Kühle weht durch die Dämpfigkeit. Der Michel sitzt auf der Terrasse unter Dach und denkt über die vergangenen 52 Wochen nach. Aber nicht über Unbill, Chef, Kollegen, Denunziantinnen, Mobbing, und, und, und. Nein. Mir ist etwas anderes aufgefallen. In meiner Hand nämlich perlt Kohlensäure von den Wänden eines Kristallglases durch einen wunderbaren, eiskalten Champagner, den mir ein sehr lieber Patient als Abschied und Dank daliess. Im November war er mir nach einer wüsten mehrjährigen Odyssee voller brutalster Schmerzen das erste Mal gegenübergesessen, wollte kaum den Blick heben. Ein halbes Jahr später, nach x Bildgebungen, Konsilen, OP, Zweifel und Kampf, Hoffnungslosigkeit, Gesprächen am Telefon und Krankenbett hat er wieder ein Leben, dessen Qualität er spürt. Zum Abschied geben wir uns die Hand und ich sehe, der Blick hält wieder, da ist Zuversicht und Hoffnung. Er lächelt. Trotz aller Schwierigkeiten. Was ist mir dabei aufgefallen? Dass ich das Wesentlichste vergessen hab: Beim Arztsein geht es vor allem um die Patienten. Die ganzen Blödnasen, Pappkasper und Schmalspurgeneräle sind Nebenschauplätze des eigentlichen Arztseins. Mein Fokus stimmte nicht. Wenn ich abends nach Hause ging, dachte ich daran, wieder abgewertet worden zu sein oder beleidigt, oder links liegengelassen. Das Drama, das Laute, das Verletzende hab ich mitgenommen. Leiser waren die Gespräche mit den Patienten. “So einen Arzt hab ich noch nie getroffen.” Gemeint ist einer, der dableibt und sich kümmert. Auch konkret nachts, wenn der Zweifel und die Angst vor der kommenden OP zu siegen drohen. Oder mal in der Rehaklinik anruft und seine Hilfe anbietet. Postoperativ hilft, wenn Akutschmerzdienst und Realschmerz aufeinanderprasseln. Leise waren auch die häufigen Nebensätze, man sei zum ersten Mal in vielen Jahren Schmerz ernst genommen worden. Oder das gestern gehörte “Unsere Begegnungen waren ein Geschenk.” Finde ich auch. Meine letzte ambulante Kontrolle war dann auch ein Kaffeegespräch und die Patientin ging ohne Therapie, aber sichtlich gestärkt vom Gespräch mit – wie sie sagte – “miinem Käffelidokter” nach Hause. Individuelle Begegnungen, gewachsene Rituale, Begegnungen mit den Menschen, die wir begleiten, das macht den Wert unserer Arbeit aus. Und wiedermal sind es Respekt, Empathie und die Achtung vor der Autonomie des Gegenübers und ein Miteinander, ein Begleiten und Fördern der Selbstwirksamkeit, die den Unterschied machen. Vor allem im Erleben der Patienten. Nun auch in meinem. Es geht nicht um Selbstbeweihräucherung. Mir geht es darum, dass ich erst in der Rückschau sehe, wie viel ich von den Patienten zurückbekommen habe, weil wir uns eben menschlich begegnet sind. Und wie wenig ich angesichts der Beschäftigung mit asozialem Kollegenverhalten, Medizinnarzismus und institutionalisierter Realitätsverzerrung davon wertschätzen konnte. Arztsein findet am und vor allem mit dem Patienten statt. Da kommt auch die Zufriedenheit her. Danke, stellvertretend für Sie alle an Herrn B. und Frau H.. Die Begegnungen und die Möglichkeit, Sie zu begleiten waren ein Geschenk.

6 Kommentare

  1. Lieber Michi, oh ja, wie war sind Deine Worte und wie wenig wird diese Haltung heute gelebt, leider. Ich trinke einen Schluck Champagner auf Dich!

  2. Das hast du so schön geschrieben, Michel. Ja, die Patienten sind das Wichtigste, dieser Fokus darf nicht verloren gehen!

  3. Sehr gut! Das hört sich viel besser an als der ganze Kampf….
    “Wut ist wie Gift trinken und hoffen dass es einem anderen schadet” habe ich kürzlich gelesen…wie wahr.
    Selbst gesund bleiben und unseren Patienten beistehen in einem kranken System – und der tägliche Alchemismus aus jeder Sch….. Gold zu machen.
    Das ist unser Los als Ärzte heutzutage – aber verbittern ist auch keine Lösung.
    Ich freue mich auf weitere lehrreiche Posts, gute Reflexionen und bedanke mich für Deine tolle geleistete Arbeit.

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