
Atropin ist ein Parasympatholytikum. Es wirkt über die kompetitive Blockade muskarinischer Acetylcholinrezeptoren. Davon gibt’s verschiedene Typen – üblicherweise M1 bis M5. Uns geht es ja oft genug nur um die Reversion einer Brady- bis Asystolie (Manchmal um den Salivationsstop). Laut Anästhesielehrbuch wären kardial nur M2 beteiligt. Blockt man die, gibt’s Tachykardien. Soweit so schön.
Im Lehrbuch steht, M1 läge v.a. zentral, M2 kardial und M3-5 wirken glattmuskulär bronchial und gefässig und irgendwo tief im Hirn. Wär schön, wär’s so banal – isses aber nicht. Wäre das nämlich so, sollte Pirenzepin, ein nicht ZNS-gängiger weitgehend M1-selektiver Muskarinantagonist keine Tachykardien auslösen können. Tut es aber. Und nein, nicht nur in Hochdosis. Woran liegt’s? M1 ist auch der vorherschende Muskarinrezeptor vegetativer Ganglien. Wir erinnern uns nochmal: 2 Anteile hat das Vegetativum: Para- und Sympathikus. Im Parasympathikus läuft die Übertragung cholinerg im Ganglion und am Endorgan, im Sympathikus cholinerg in den (Grenzstrang-)Ganglien und noradrenerg am Endorgan… Übertragungsmodus vegetativer Ganglien: cholinerg (M1) – wer sich’s kompliziert machen will, schwadroniert jetzt gern von prä- und postganglionär para-/ sym- und unsympathisch, wir sparen uns das mal. Also: M1-Cholinozeptoren liegen zentral und ganglionär (P&S!).
Für uns heisst das: M1 ganglionär und M2 kardial sind Angriffspunkte zur Bradykardietherapie mit Atropin.
Nun geistert gerade in der Pädi-Anästhesie die “Paradoxe Bradykardie” herum, also eine v.a. bei sehr jungen Patienten auftretende Bradykardie durch eine zu geringe Dosis Parasympatholytikum. Unser Model “Blockade M1 ganglionär und M2 kardial” gibt das irgendwie ja nur zum Teil her, da nämlich wo via ganglionärer M1-Blockade der Sympathikus blockiert wird. Beim Parasympathikus knocken wir nur zweimal auf anderen Ebenen die Überleitung aus (M1 dann M2), sollten also sowohl bei ganglionärer als auch kardialer oder kombinierter Blockade eine Tachykardie auslösen. Die Idee für einen möglichen parasympathischen Bradykardiemechanismus wären niedrigdosisempfindliche präsynaptische M1, die in freier Funktion die Acetylcholinfreisetzung reduzieren, also bei Blockade ohne postsynaptische Blockade eine Parasympathikusaktivierung/ ACh-Mehrausschüttung mit nun Bradykardie zur Folge hätten [Meyer, Sommers – Possible Mechanisms of anti-cholinergic drug-induced bradykardia, Eur J Clin Pharmacol (1988) 35; 503-506]. Warum nun aber bei üblichen Dosen Atropin trotz M1-Block auf der Sympathikusleitung (ganglionär) eine Tachykardie resultieren soll, kann ich grad nicht beantworten. Lüllmann und Skiya postulierten für Blutegel und Kaninchen gar Atropin hemme in niederer Dosis die Acetylcholinesterase… soweit der Vorlauf.
In einem älteren Artikel zum Atropin hab ich nun die pädiatrische Dosierungsempfehlung “0,01 mg/kg Atropin, mindestens jedoch 0,1 mg zur Vermeidung paradoxer Bradykardien” wiedergekäut. Die Empfehlung der AHA 2020 für pädiatrische Atropinboli liegt bei mindestens 0,1 mg und 0,02 mg/ kg, maximal 0,5 mg für die Einzeldosis. Nun hat ein wunderbarer Kollege mir einen Artikel (Keith J. Barrington – The Myth of a Minimum Dose of Atropine – Pediatrics 2011;127: 783 (DOI: 10.1542/peds.2010-1475)) ins Fach gelegt, der sich mit der pharmakologischen Rechtfertigung dieser Anweisung beschäftigt und die Empfehlung des “mindestens 0,1 mg” sowie überhaupt die Idee der paradoxen Bradykardie bei üblichen Dosen in Frage stellt. Nebenbei wirft man noch einen Blick auf Toxizitätsgrenzen. Warum? 0,01 mg/kg Atropin ist die übliche Dosierung im Bereich der vagalen Blockade zur Reversion einer Bradykardie bis Asystolie beim Erwachsenen. Beim Kind wird eher 0,02 mg/ kg empfohlen. Zeichen der Toxizität treten bereits im Dosisbereich totaler Vagolyse um 0,04 mg/kg auf (das sind maximal 3 mg Atropin für den 70 kg Mann aber nur 0,12 mg für den 3 kg Neonaten!). Diese Schwelle wäre theoretisch für 0,1/ 0,2 mg bei einem Gewicht von 2,5/ 5 kg erreicht. Nun begegnen einem in der Alltagsanästhesie peripherer Häuser selten Kinder unter dieser Gewichtsklasse. Erwähnenswert ist diese Dosislage aber vor allem im Zusammenhang mit kritikloser Repetition einer solchen Dosis zum Beispiel im Notfall, denn ein 5 kg Kind findet sich schon eher und tatsächlich ist bei Frühgeborenen gerade auf pädiatrischen Intensivstationen eine vergleichsweise Gewichtslage oder weniger sehr gut möglich. Für solche Kinder ist die Dosis von 1-2x 0,1 mg definitiv zu hoch und ggf. lebensgefährlich!
Zurück zur paradoxen Bradykardie und Keith Barrington. Ausgehend von den PALS Empfehlungen stört er sich v.a. an den 0,1 mg Mindestdosis, die für kleine Kinder z.B. mit 2 Kilogramm eben 0,1 mg statt den berechneten 0,04 mg vorsahen und damit über der theoretisch toxischen Schwelle von 0,08 mg lagen. Die Meinungslage ist dicht, die Studienlage dünn. Tatsächlich scheint die ursprüngliche Empfehlung auf eine einzige Studie [Dauchot, Gravenstein – Effects of atropine on the electrocardiogram in different age groups – Clin Pharmacol Ther 1971; 12 (2): 274-280] zurückzugehen. Für uns interessant wären Kinder unter 5 kg, also dem Gewicht, unterhalb dessen berechnete Dosis (5kg*0,02 mg/kg) und Minimaldosis zur toxischen Schwelle driften. In besagter Studie wurden aber keine Frühchen beobachtet und für die jüngsten zwischen Woche 3 und einem halben Jahr im passenden Gewichtsbereich waren die bradykarden Abweichungen nicht signifikant. Nur zwischen 7 und 12 Jahren zeigte sich ein bradykardisierender Effekt. Die dabei verwendete Dosis lag bei 0,0036 mg/kg oder weniger. Darüber kam es zu den üblichen Tachykardien. Entsprechend empfahl man ‘höhere Dosen als 0,0036 mg/kg” da darunter eine insuffiziente M2-Blockade angenommen wurde. Die Empfehlung von 0,1 mg als Minimaldosis stammt aus der Diskussion der Studie, wo der Satz “we therefore give a minimum dose of 0,1 mg of atropine” eher als Heuristik denn als Empfehlung daher kommt.
Warum die Aufregung? Ist das überhaupt rele ant? Ja! Gilick beschreibt Fälle von Atropintoxizität im gegebenen Dosisbereich nach repetitiver Gabe und Todesfälle um 0,05mg/kg [Gillick – Atropine toxicity in a neonate – Br J Anaesth 1974: 46 (10): 793-794].
Und wie steht’s mit den Paradoxien? Die Arbeitsgruppe um Andriessen und die Arbeitsgruppe um Oei zeigen, dass die 0,01 mg/kg etwa bei 1 kg Kindern und allgemein Neonaten ohne paradoxe Bradykardie gegeben werden konnten [Andriesse et al.- Cardiovascular autonomic regulation in preterm infants: the effect of atropine. Pediatr Res 2004; 56 (6):939-946], [Oei et al. – Facilitation of neonatal nasotracheal intubation with premedication: a randomized controlled trial. J Paediatr Child Health 2002; 38 (2): 146-150].
Und zu welchen Schluss kommt Barrington bezüglich der minimalen Fixdosis 0,1 mg Atropin nun? Don’t!
Übrigens, wir reden hier von herzgesunden Kindern – für Herztranspantierte (eigentlich ja damit bilateral vagotomiert!) und post-sinuatriale Blöcke sind deletäre Atropinparadoxien sehr wohl belegt!
PS: Merci an Thomas!