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Michel
Wir freuen uns ja immer, wenn Pharmaka kurze Halbwertszeiten im Minutenbereich haben, also gut steuerbar sind. Ultiva wäre ein Beispiel, Succinylcholin und Mivacurium zwei weitere prüfungsrelevante. Alle drei werden von Esterasen abgebaut, Enzymen also, die Esterverbindungen knacken.
Bekanntester Ester gefällig? Acetylcholin… unser Messengerfreund aus dem Vegetativum (präsynaptisch sympathisch/ parasympathisch und postsynaptisch parasympathisch via muskarinergen ACh-Rezeptoren) und der motorischen Endplatte (via nikotinergen ACh-Rezeptoren) gemacht aus Essigsäure (in ihrer Aktiven Form als Acetyl-CoA) und Cholin.


Und die dazugehörige Esterase ist dann auch die Acetylcholinesterase, die wir aus dem Bereich des synaptischen Spalts membranständig und rezeptornah kennen. Alles was von der motorischen Endplatte wegdiffundiert, wird schnell in Gewebe und Plasma von Pseudocholinesterasen gespalten und damit desaktiviert. Im Fall von ACh zu Cholin und Acetat. Das Schöne an Pseudocholinesterasen ist, dass sie auch andere Ester zerlegen können, die eben nicht nur aus Cholin und irgendeinem Alkohol aufgebaut sind. Schön ist weiterhin, dass sie üblicherweise in so hoher Gewebekonzentration vorkommen, dass sie für verschiedene Pharmaka ultrakurze und stabile kontextabhängige Halbwertszeiten garantieren können. Ergo gibt`s hier üblicherweise eine nicht sättigbare Kinetik (“Gibt immer viel Enzym für wenig Substrat”) mit stabilen Abbauraten, (“Fixer Prozentanteil pro Zeiteinheit”) – die berühmte Kinetik 1. Ordnung der meisten Pharmaka mit einer definierten Halbwertszeit.
Und warum in drei Teufels Namen soll Euch das nun interessieren? Nun, weil Succinylcholin, Mivacurium, Aspirin, Cocain und Heroin über diese Pseudocholin- oder Butyrilcholinesterase abgebaut werden und letztere in Menge oder Wirkung vermindert sein kann und dann Freunde wird es mit der kurzen Relaxation nach Miva und Succi Essig!
Also: Die Pseudocholin- oder Butyrylcholinesterase wird in der Leber gebildet und natürlich gibt es dazu ein korrespondierendes Gen. Nun kann man sich bekanntermaßen die Leber zu Größe, Funktion und Konsistenz eines Golfballes trinken und durch fleissiges jahrhundertelanges Inbreeding dafür sorgen dass sich immer gleiche dysfunktionale Allele im zumindest partiell kreisförmigen Stammbaum zusammenfinden. Das Ergebnis ist im ersten Fall ein Mangel an Pseudocholinesterase durch Minderproduktion bei Leberinsuffizienz im zweiten Fall ein Funktionsdefizit durch atypische, bzw. dysfunktionelle Formen auf der Basis einer Hetero- oder Homozygotie. Die Rate an Homozygoten wird auf etwa 1:2000 geschätzt. Also durchaus häufig genug, um einem in so nem Anästhesistenleben in Form eines Zwischenfalles begegnen zu können. Mir selbst bereits zweimalig.
Wie sieht ein solcher Zwischenfall aus? Wir nutzen Miva und Succi für kurze Eingriffe oder eine Crush-Intubation, also rapid sequence induction. Wir rechnen nun mit Wirkdauern von 10 bis 15, bei Succi von 1 bis 4 Minuten. Hatten wir nun unerwarteter Weise einen hetero- oder homozygoten Träger solch atypischer Pseudocholinesterasen vor uns, dann verlängern sich die Wirkdauern beträchtlich, mitunter bis in den Stundenbereich. Was uns bleibt, ist letztlich die Nachbeatmung bis zum Abklingen der Relaxierung. Meist greift eine Antagonisierung mit Neostigmin nicht oder nicht anhaltend. Das ist übrigens einer der Gründe warum auch unter Succinylcholin und Mivacurium eine TOF-Messung vor Ausleitung empfohlen ist. Wach und relaxiert gehört ja eher in die Kategorie unerfreulicher Folterereignisse. Don`t!
Hat man nun einen solchen passenden Kasus, dann würde man das Ganze ja nun gern bestätigen, allein um den Makel einer Fehldosierung loszuwerden, den die gackernde Meute der hämischen Kollegen einem immer wieder vorhält. Vor allem aber, um dem Patienten und seinen Angehörigen (zumindest bei genetisch bedingten Formen) analoge Ereignisse künftig zu ersparen. Als Leberfunktionsparameter kann man die Plasmacholinesterase bestimmen. Bei höhergradiger Leberinsuffizienz mit Synthesestörung, Malignomen in fortgeschrittenem Stadium und Schwangerschaft ist diese erniedrigt. Allerdings selten in relevantem Maß.
PCE – Plasmacholinesterase – 3.000-11.500 U/l [alters-, geschlechtsspezifische Schwankungen]
Als spezifische Masszahl für dysfunktionale Esterasen hält die Dibucainzahl her. Dibucain ist ein potentes und vergleichsweise toxisches Amid-Lokalanästhetikum, das als Substrat für unsere Pseudocholinesterase dient, diese aber hemmt. Normale Plasmacholinesterase wird stärker von Dibucain gehemmt als atypische. Wir messen also einmal Aktivität mit Dibucain und einmal ohne und vergleichen – normale Plasmacholinesterase wird zu etwa 70% gehemmt (Dibucainzahl je nach Schreibweise 0,7 oder 70%), heterozygote atypische Formen zu 30 bis 70% und homozygote zu unter 30 Prozent. Die exakten Werte schwanken je nach Labor.

Dibucainzahl
- normale Form >70% Hemmung
- heterozygote Form atypischer PCE 30-70% Hemmung
- homozygote Form atypischer PCE <30% Hemmung
Dieser hübsche Test ist seit Ende der 50er bekannt, mutet also etwas vorsinntflutlich an, dennoch kommt er noch zum Einsatz, man kann aber natürlich auch das zugehörige Gen bestimmen, da wäre es dann BCHE (wie Butyrylcholinesterase) auf 3q26.1 in mehreren Varianten. Die Gesamtcholinesteraseaktivität wäre ein weiterer Ergänzungsparameter… die sollte über 75-80% liegen.
Und was macht man nun, wenn man einen positiven Bescheid bekommen hat? Nun, man erzählt dem Anästhesisten seines Vertrauens davon und trägt bitte einen Anästhesieausweis mit den entsprechenden Einträgen mit sich rum. Für Operationen mit obligater Relaxation gilt: Vollständiger Verzicht auf Succinylcholin und Mivacurium. Für übliche Einleitungen ist Atracurium und Rocuronium geeignet. Für die RSI/ Crush-Intubation eignet sich Rocuronium in 3-4facher ED95, also 0,9-1,2 mg/kg. Bei Atracurium findet man gerne “unspezifische Esterasen” als Abbauweg neben der organunabhängigen Hoffmann-Elimination, gelegentlich wird eine Carboxylesterase genannt. Bei cis-Atracurium und vermutlich auch bei Atracurium in vivo (!) dürfte der Anteil an Esteraseaktivität am Abbauergebnis marginal sein. Das heisst dann auch, selbst bei atypischer Cholinesterase oder schwerer Hepatopathie: Atracurium geht immer! Rocuronium läuft ohnehin über die hepatische Schiene via CYP450xyz.
Wo nötig sind Regionalverfahren möglich, zwingend ist auf Esterlokalanästhetika bei stark erhöhter Toxizität mangels Abbau zu verzichten. Amide sind möglich und sie sind ja bekanntermaßen auch unsere Mittel der Wahl mangels Allergiepotential. Aspirin, Cocain und Heroin vertragen sich mit BCHE-Mangel auch eher weniger. V.a. im Hinblick auf kardioprotektive ASS-Gabe und Überdosierungsgefahr relevant.
https://www.labor-und-diagnose-2020.de/k01.html#_idTextAnchor901
Tabelle 17-8
Die Hemmung des Abbau kann je nach Labor auch mit Flourid und Ro 2-0683-Hemmung getestet werden und genetisch bestimmt werden.