Für mich hatte das erste Jahr Anästhesie viel mit Douglas Adams zu tun. Ja, ich hätte mich auch gern gelegentlich unter einem Handtuch versteckt. Aber vor allem steht auf dem Einband seines wunderbaren Buches “The Hitchhikers`s Guide to the Galaxy” in großen, freundlichen Lettern das wichtigste Motto in der Anästhesie. Und man sollte sich das zu Anfang auf die Stirn tätowieren lassen: DON`T PANIC! Den subversiven Douglaschen Humor übrigens kann man gar nicht früh genug über die Blut-Hirnschranke fliessen lassen.
Tatsächlich ist ein Aspekt der Anästhesie, dass man mit den Jahren vor allem etwas entspannter und gleichgültiger wird mit den Dingen, die eben so passieren im OP, auf der Notfallstation, im Rettungsdienst oder zwischen den Ohren der chirurgischen Kollegen. In den ersten Tagen macht einen selbst der kleine Blutdruckanstieg völlig irre, der schreiende chirurgische Kollege, der beatmungsbedingte Zwerchfellbewegung nicht von Pressen unterscheiden kann dito. Mit den Jahren werden Kreuz und Hintern breiter und man sitzt vieles aus.
Erster Merksatz also: DON`T PANIC!
Wenn man dann so das erste mal alleine im OP steht und sich zu erinnern versucht, wie man dieses weiße Zeug dosiert oder auch später auf Facharzt, europäisches Examen oder ähnliche Lästigkeiten lernt, dann stellt man schnell fest, alles auf einmal lernen müssen ist echt viel. Wer einsteigt ins Thema Anästhesie ist leicht überfordert von all den Details in Pharma, Physio und Klinik. Wer nachlernt ebenfalls. Und der akute kranke Patient braucht halt jetzt und gleich die Differenzierung und das Wissen von 30 Jahren Anästhesie. Das und der zuständige Oberarzt im Tobsuchtsmodus, der rastet, wenn nicht sofort alles auf Facharztniveau parat ist, macht echt Druck. Das geht doch auch gar nicht! Das kann man doch alles gar nicht wissen! Stimmt! Geht nicht. Man muss aber auch nicht gleich alles wissen.
Satz 2 kommt also aus Mutti`s Sprüchekiste: “Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen!”
Toller Spruch, sag das mal dem OA. Ok, es gibt Dinge, die sagt man geschickterweise nur zu sich selbst. Im Stillen. Aber tatsächlich ist der Einstieg leichter als du denkst, denn wenige Dinge reichen für den Anfang:
Was brauchst du:
- die 5 grundlegenden Einleitungsmedikamente deiner Klinik und ihre Dosierungen (also 2021 vermutlich Propofol, (Su-)Fenta, Remifentanil, Rocuronium oder Atracurium und ggf. Succinylcholin
- 2 Antidote, nämlich Sugammadex und Naloxon
- die grundlegenden Katecholamine (v.a. Noradrenalin, Ephedrin, Phenylephrin (CH) oder Akrinor (Theocaffedrin, D), Adrenalin für die REA
- etwas Physiologie wär nicht so schlecht: Präoxygenation als Wechselspiel von Sauerstoffbedarf und FRC, was ein Tidalvolumen und ne Atemfrequenz ist sollte man wissen und vielleicht ne Idee haben, was VCV und PCV sind und was die jeweiligen Vor- und Nachteile sind.
Das ist echt nicht viel und man schreibt sich das mal eben an zwei Abenden auf ein DINA4-Blatt oder zwei Seiten Kittelbuch. Alternativ druckt man sich den Kittelspicker von BoA aus und passt ihn für die eigene Klinik an.
Was die praktische Skills für die ersten Wochen angeht ist Beschränkung Trumpf! Erstmal die Basics gut machen:
- Venflon/ Braunüle/ Viggo legen ohne Igelmodus und Blutbad
- Verkabeln mit EKG, Blutdruck, Sättigung und TOF
- Maskenbeatmung, danach LaMa und Intubation
Der ganze fancy Kram wie Spinale, PDA, Reginalverfahren sind goodies und die haben Zeit! Inhaltlich reicht`s zu wissen, dass in Mama und Papa ne 4er oder 5er LaMa oder ein 7er oder 8er Tubus passt. Dein Hauptaugenmerk sollte auf einer Struktur liegen, überhaupt einen Ablauf für dich zu basteln, der garantiert, dass alles immer gleich geht und immer die selben Sachen an den Patienten gehören: EKG, NIBP, SO2, TOF, dann Venflon & Infusion, dann Medis, Notfallmedis, Laryngoskop und Tubus/LaMa, dann Maschinenfunktion… egal wie, Hauptsache deine Heuristik erlaubt, an alles zu denken und am Ende fehlt nichts! Patientensicherheit vor allem anderen! Also Kopf runter, Fokus und immer das selbe Schema ableiern. Merkhilfen, wie der Dreiercheck helfen sich zu erinnern. Dass so etwas gut funktioniert zeigt das ATLS-ABCDE im Schockraum oder die AMPLE in der Notfallanannese. Je primitiver der MErkspruch, desto robuster erinnert man sich!
Was also heißt das für den Einstieg? Auf’s Wesentliche konzentrieren, fokussiert bleiben auf das, was man kann, eine Sache anfangen und beenden. Nichts nervt die anderen mehr, als wenn du deins nicht fertig machst und ihres behinderst! Gut gemeint ist an der Stelle eben nicht gut gemacht! Anästhesie ist Teameffort und meist hat deine Pflege oder dein OA eh den Überblick, der dir noch fehlen MUSS. Das ist in den ersten Wochen normal! Alles gleichzeitig machen zu wollen führt zu Chaos und Teamstress. Dein Goodwill fliegt dir also um die Ohren, wenn du alles machen willst. Was hilft? Kommunizieren! Rede mit deinem Team! Ich mache das, machst du das bitte und zügig erreichen wir gemeinsam das Ziel. Deine Mitspieler wissen nicht, was in deinem Kopf abgeht! Und dem stummen Chaoten unterstellt man gern mal Unwissen und zwei linke Hände und nicht Überforderung oder die üblich mangelnde Übersicht. Also: Reden und abgeben! Du kannst und musst nicht alles allein machen!
Noch eins. Du fühlst dich insuffizient. Ein Geheimnis: Das bist du in den ersten 12 bis 24 Monaten auch. Das ist so. Das muss so sein. Das weiß aber dein Team auch. Niemand fängt als Meister an. Klar gibt es Unterschiede, die gleichen sich meist aus. Aber dranbleiben muss man. (Und seins im Kleinen gut machen: zum Beispiel eben ankabeln, Medikamente richten, etc…) Hier kommen wir zum compound interest. Alles auf einmal lernen geht nicht. Punkt. Wer in den ersten Wochen nach 12 oder mehr Stunden den Resttag mit Bücherwälzen und ohne Schlaf und sozialen Ausgleich beendet, landet im Burnout. Zwangsläufig. Frag mich, da war ich anno 2009 – deshalb bin ich heute kein Chirurg mehr. Sowas lohnt sich nicht. Hab Geduld mit dir. Ein Thema pro Abend an Werktagen lesen. Eine Dosierung pro Tag. Wochenenden und Ferien sind tabu. Wer immer volle Pulle fährt gibt auf. Immer. Kontinuität und kleine Schritte führen zu winzigen Fortschritten, die aber irgendwann exponentielle Vorteile gegenüber Pulklernern und Überforderern bieten. Du kennst das aus Training oder Gelddingen! Einmal im Monat trainieren wie ein Stier? Das bringt Muskelkater und Gelenkschäden, aber keinen Waschbrettbauch. Beim Sparen bringt der regelmäßig gesparte Zehner, der nicht wehtut über Jahre Zinseszinszuwächse. Als Einzelbatzen oft kaum stemmbar. Und beim Lernen? 5 Jahre Facharztzeit à 220 Arbeitstage sind 1100 Einzellektionen oder vielleicht 1 bis 2 der dicken Standardlehrbücher, von denen man ganz mühelos nur eine Seite am Tag gelesen hat. Das ist viel einfacher, als alles am Stück zu lesen!
James Clear hat ein Buch geschrieben: Atomic habits. Genau darum geht es da – kontinuierlich kleine Schritte vorwärts. Er argumentiert mit exponentiellen Zuwächsen, wenn man regelmäßig ein winziges bisschen tut. Er rechnet mit 1 Prozent Verbesserung pro Tag und kommt nach einem Jahr auf das 37fache des Ausgangswerts (1.01^365 = 37.78). Für unsere 1100 Arbeitstage als Assistent hieße das 1.01^1100 und damit bei Wissen als Grundlage eine knappe Versechzigfachung (56,6) unseres Wissens. Für ein Promille immerhin noch eine Verdreifachung. Nun ist das sehr amerikanisch simpel gedacht und gerechnet und 1 Prozent Wissenszuwachs pro Tag wäre viel und schwer zu messen. Dennoch: die Kontinuität kleiner Schritte in der Theorie führt euch mit großen klinischen Schritten zum Ziel! Habt Geduld mit euch! Und macht jeden Werktag einen kleinen Schritt zum Ziel.
Also: Keep it up!