Es gilt immer und überall: NIHIL NOCERE!
Zunehmend gerät der unkritische Einsatz von Sauerstoff in Notfallmedizin, Intensivtherapie und Anästhesie in Kritik. Es mehren sich Hinweise, dass die Gabe zumindest keine Überlebensvorteile z.B. bei normoxämischen infarktpatienten bietet (DETO2X 2017). Im Rahmen der Intensivtherapie scheinen freier Sauerstoffradikale v.a. in der Reperfusion ein klinisch relevanter outcome Parameter im negativen Sinne zu sein, so dass man grob die Empfehlung aussprechen kann, dass eine Sauerstoffgabe bei normoxämischen Patienten mit Raumluftsättigung über 90% NICHT INDIZIERT ist…
Beim Beatmeten gilt nach wie vor, dass eine paO2 um 60 mmHg, also erneut bei der Grenze 90% genügt (“90-60-90-Regel” vrgl. Atmung 4 – Sauerstoffbindungskurve).
Die Problematik des Ausfalls des Atemantriebs bei COPD unter unkritischer Sauerstoffgabe haben wir auch bereits erörtert (vrgl. Atmung 6 – Atemantrieb).
In der klinischen Anästhesie sind aber v.a. 2 Arten von Patienten durch unkritische Sauerstoffgabe gefährdet:
(1) – Frühgeborene unter 1,5 kg und jünger als 44 Wochen post conceptionem erleiden u.U. eine sauerstoffinduzierte retrolentale Fibroplasie.
(2) – Tumorpatienten nach Chemotherapie mit Bleomycin erleiden u.U. eine sauerstoffinduzierte Pneumonitis mit konsekutiver lebenslimitierender Lungenfibrose.
Hier gilt: Fehlende Antizipation des Problems bedingt Erblindung und Tod!
ad (1) Retrolentale Fibroplasie
Die Einsprossung von Gefäßen zur Versorgung der sich entwickelnden Netzhaut geschieht zwischen der 14. und 40. SSW zentrifugal von der Papille aus. Die Angiogenese folgt dabei einem Sauerstoffgradienten, erfolgt also gerichtet in hypoxische Bereiche. Der paO2 liegt beim Ungeborenen deutlich niedriger als post partum (etwa 25 mmHg vs. 70 mmHg.) Steigt also mit der Geburt oder iatrogen der Sauerstoffpartialdruck, so kommt die gerichtete Angiogenese zum Stillstand. Die Entwicklung der Netzhaut schreitet voran, der Sauerstoffbedarf kann in diesen avaskulären Bereichen nicht mehr gedeckt werden, es kommt zum Absterben und fibrotischen Umbau mit Einsprossen atypischer Gefäße in den Glaskörper. In der Folge kommt es zur zugbedingten Amotio. In den Frühstadien oder bei geringem Befund ist keine Therapie notwendig, je ausgeprägter der Befund, desto eher ist eine Laserkoagulation zur Netzhautfixation, ggf. Glaskörpereingriffe mit schlechtem outcome hinsichtlich Visus notwendig.
Für die Praxis:
- bei Frühgeborenen maximal Normoxämie anstreben, eher eine milde Hypoxie (88-92%)
- ein reifes Termingeborenes hat einen paO2 von 50-60 mmHg, 70 mmHg nach 24 h, Frühgeborene etwa 40-50 mmHg
- Grenzwerte sind unklar, >80 mmHg über > 3h oder > 150 mmHg über > 2h sind bedenklich
- Sauerstoffgabe maximal zur Normoxie (<80 mmHg) und so kurz wie irgend möglich
ad (2) Sauerstoffinduzierte Lungenfibrose nach Bleomycinexposition
Bleomycin ist ein Cytostatikum, formal ein Antibiotikum, chemisch ein Glycosid aus Streptomyces verticillus, das v.a. bei Patienten mit Lymphomen und Hodentumoren eingesetzt wird. Bleomycin verursacht in bis zu 18% dosisabhängig eine interstitielle Lungenfibrose. Typischerweise tritt diese 1-6 Monate nach Exposition auf. Narkosen mit hohem Sauerstoffanteil können aber auch Jahre (!) nach Exposition noch eine potentielle tödliche Lungenfibrose auslösen! Eine unbedenkliche Grenze für die FiO2 gibt es nicht!
In der Praxis:
- Dran denken und Informationen einholen! Welches Chemoschema wurde verwendet PEB, BEACOPP, COBP… Patienten wissen soetwas meist nicht! Der Ausschluß einer Bleomycinexposition ist Aufgabe des Anästhesisten!
- Regionalverfahren vor Allgemeinanästhesie
- Einleitung und Narkoseführung mit Raumluft! Deshalb keine Apnoephasen! (Einleiten im Saal!) KEINE Präoxygenierung (bringt ja nix mit 0,21 😉 )
- Hypo- bis Normoxie 88-90%
- DOKUMENTATION
- …den Arsch in der Hose zu haben in der allfälligen Hypoxie die Minuten durchzustehen, bis die Sättigung nach Abfall wieder steigt braucht Nerven… holt eure Oberärzte in den Saal!
FÜR ALLE GILT: SAUERSTOFF IST EIN MEDIKAMENT MIT WIRKUNGEN NEBENWIRKUNGEN, INDIKATIONEN UND KONTRAINDIKATIONEN – so viel wie nötig, so wenig wie möglich – 90%/ 60 mmHg reicht!
[…] Chefin hat mir einen neueren Artikel ins Fach gelegt, der ein paar neue Aspekte einbringt, bzw. das Geschriebene ein wenig […]