Das Erste, was mir in den Kopf kam, als ich hörte, Rothaarige benötigten mehr Lokalanästhetika und Volatila und seien grundsätzlich schmerzempfindlicher begann mit einem “Bullsh*t…”, allerdings hatte auch ich immer mal wieder den Eindruck, dass Narkoseführung und postoperative Schmerztherapie gerade nach Regionalverfahren schwierig waren. Eine selbsterfüllende Prophezeiung?
1-2% der Weltbevölkerung sind “rothaarig”, in Mittel- und Nordeuropa liegen wir etwas höher bei 6-13%. Zugrunde liegt der hellen Haut und dem roten Haar ein Mangel an Eumelanin, dem Farbstoff brauner Haut. Unsere Hautfarbe ist Ergebnis der Einwirkung von MSH – dem “melanozytenstimulierenden Hormon” oder Melanocortin. Über den Melanocortin-1-Rezeptor (MC1R) aktiviert MSH G-Protein-vermittelt die Eumelaninsynthese. Bleibt diese aus, bildet der Körper nur Phäomelanin, einen rötlich bis gelblichen Farbstoff, der nicht vor UV-Strahlung schützt.
Menschen mit sehr heller Haut und rotem Haar weisen einen Defekt des auf Chromosom 16 liegenden MC1R-Gens auf, der zum Ausfall der o.g. Kaskade führt. Ohne Eumelanin (homozygot) oder mit wenig Eumelanin (heterozygot) steigt das Risiko für Melanome.
MC1R findet sich jedoch auch an Zellen des Immunsystems, die Funktion ist unklar. Weitere MCR (3&4) finden sich v.a. zentralnervös, ein möglicher Hinweis auf ihre Beteiligung an neuromodulativen Vorgängen.
Eine Vorstufe des MSH/ Mellanocortin ist Pro-Opio-Melanocortin (POMC). Auch körpereigene Opioid, Endorphine werden aus dieser Vorstufe gebildet. Die Mechanismen der Kreuzreaktionen zwischen MSH und dem Endorphinsystem sind weitgehend unerforscht, könnten aber z.B. durch Rezeptorinteraktion eine Erklärung für ein verändertes Schmerzerleben bieten.
Hinsichtlich Anästhesie und Analgesie ist die Studienlage uneindeutig:
Volatila/ Allgemeinanästhesie generell
In einer Studie von Liem zeigten Rothaarige zwar einen signifikant erhöhten Bedarf an Desfluran bis zur Analgesie, allerdings war die Studie mit n=20 an einem vergleichsweise kleinen Kollektiv durchgeführt worden [Anesthesiology 2004 (8);101 (2):279-83 – Liem et al: Anesthesia requirement is increased in redheads].
In der etwas umfangreicheren Studie (n=468) von Myles et al. konnten keine signifikanten Unterschied hinsichtlich Aufwachzeiten, Qualität des Erwachens oder hinsichtlich des Schmerzempfindens gezeigt werden [Anaesth Intensive Care 2012: Myles et al: The effect of hair colour on anaesthetic requirements and recovery time after surgery.].
Die Arbeitsgruppe um Gradwohl konnte schließlich in einer Studie mit fast 2000 Patienten (knapp 300 davon Rothaarige) keinen signifikanten Unterschied im Risiko intraoperativer Wachheit, im Bedarf an Volatila (mittels Bispektralindex), Erholungszeiten oder postoperativem Schmerzniveau zeigen [Can J Anaesth. 2015: Gradwohl et al: Intraoperative awareness risk, anesthetic sensitivity and anesthetic management for patients with natural red hair: a matched cohort study.].
Propofol/ Midazolam
Chua et al. zeigten an 39 Patienten eine signifikant geringere Wirkung von Midazolam hinsichtlich Sedation und kognitiver Einschränkung [Can J Anesth 2004 (1), 51:25 – Chua et al: Midazolam causes less sedation in volunteers with red hair].
Doufas et al. zeigten an 29 Patienten via Bispektralanalyse keinen signifikanten Unterschied hinsichtlich der Pharmakodynamik und -kinetik von Propfol [Anesth Analg 2013 (2):116(2):319-26: Doufas et al. – Bispectral index dynamics during propofol hypnosis is similar in red-haired and dark-haired subjects.].
Mogil et al. konnten zeigen, dass es geschlechterspezifische Unterschiede bei der Analgesie mit spezifischen kappa-Opioid-Rezeptor-Agonisten gibt. So profitierten besonders Frauen mit zwei defekten MC1R-Allelen von der Analgesie mit Pentazocin, ein Hinweis auf eine MC1R/MSH-vermittelte und geschlechtsspezifische Modulation der Endorphin/Opioid-Wirkung [Proc Natl Acad Sci USA 2003: Mogil et al: The melanocortin-1 receptor gene mediates female-specific mechanisms of analgesia in mice and humans.] .
Lokalanästheika/ allgemeines Schmerzempfinden
Liem et al konnten 2005 an 60 Patientinnen zeigen, dass die Toleranz gegenüber Reizstrom in beiden Gruppen gleich war, dass Rothaarige jedoch Kälte sensibler wahrnehmen und empfindlicher gegenüber thermisch bedingten Schmerzen waren. Auffällig war v.a. die signifikant geringere Wirkung von Lidocain der Rothaarigen im Reizstromversuch – Lokalanästhetika wirkten bei ihnen schlechter [Anesthesiology 2005: Liem et al: increased sensitivity to thermal pain and reduced subcutaneous lidocaine efficacy in redheads.].
Droll et al. untersuchten in diesem Zusammenhang die Angst vor dem Zahnarzt und die Effektivität der Alveolarnerv-Blockade mit Lidocain. Während keine Unterschiede hinsichtlich der Effektivität der Blockade zu finden waren, zeigte sich eine signifikante Korrelation zwischen erlebter Angst und Homozygotie im MC1R-Gen [J Endod 2012: Droll et al: Anesthetic efficacy of the inferior alveolar nerve block in red-haired women].
- Hinsichtlich Narkosetiefe, Risiko intraoperativer Wachheit, Aufwachzeit und Anästhesiequalität im Rahmen von Allgemeinnarkosen besteht wohl kein signifikanter Unterschied. Möglicherweise ist der Desfluranbedarf gering erhöht.
- Propofol ist wohl in seiner Wirkung unverändert.
- Die Opioidwirkung unterliegt MSH-abhängiger Modulation u.a. via MC1R. MSH antagonisiert die Opioidwirkung. Bei MC1R-Defekt würde man eine effektivere Analgesie und ggf. stärkere Nebenwirkungen erwarten. Dies ließ sich bisher nicht zeigen.
- Midazolam scheint weniger effektiv.
- Rothaarige sind insbesondere für thermische Schmerzreize sensibler.
- Lidocain, ggf. andere Lokalanästhetika wirken möglicherweise weniger effektiv.
Letztlich ist eine adäquate Narkoseführung immer an den individuellen Bedarf angepasst. Eine besondere “Angst” vor Narkosen für Menschen mit rotem Haar scheint unbegründet. Allenfalls eine erhöhte Vigilanz hinsichtlich Zeichen ungenügender Narkosetiefe ist geboten, ggf. kann ein BIS-Monitoring helfen, Unsicherheit zu beseitigen. Die “MAC 0,7-1,3”-Regel zur awareness-Prophylaxe gilt hier wie bei jedem anderen Patienten. Propofol ist ein adäquates Medikament zu Induktion und Narkoseführung, ggf. sind Opioide geringfügig niedriger zu dosieren.
Bei Regionalverfahren erlaubt uns der Ultraschall inzwischen ggf. auch eine zweite Dosis lokal (innerhalb der kummulativen Höchstdosen), vielleicht ist eine rustikalere Primärdosis anzudenken (natürlich innerhalb der Höchstdosen).
” Über den Melanocortin-1-Rezeptor (MC1R) aktiviert MSH G-Protein-vermittelt die Eumelaninsynthese. Bleibt diese aus, bildet der Körper nur Phäomelanin, einen rötlich bis gelblichen Farbstoff, der nicht vor UV-Strahlung schützt. (…) Ohne Eumelanin (homozygot) oder mit wenig Eumelanin (heterozygot) steigt das Risiko für Melanome.”
2012 wurde in mehreren Medien von einer Studie an Mäusen berichtet, nach der Rothaarige ein generell höheres Hautkrebsrisiko (Melanome) auch ohne Sonnenstrahlung aufweisen, da das rötlich-gelbe Phäomelanin nach Einschätzung der Wissenschaftler selbst cancerogen wirken soll.
(http://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/rothaarige-auch-ohne-uv-strahlung-anfaelliger-fuer-hautkrebs-a-864722.html)
(http://www.nature.com/news/redhead-pigment-boosts-skin-cancer-risk-1.11711)
Nach anderen Studien wird nur für die Entstehung von Basaliomen ein unmittelbarer Einfluss der Sonnenstrahlung angenommen.
Interessant finde ich die Feststellung, dass Rothaarige insbesondere für thermische Schmerzreize sensibler sind.
Da stellt sich die Frage, ob die Entwicklung einer erhöhten Schmerzempflindlichkeit evolutionär nicht insofern Sinn machen könnte, als dass eine gesteigerte Empfindlichkeit für hohe Temperaturen bei Rothaarigen implizit als Schutzfaktor gegen zu lange Sonnenexposition wirken könnte und sich diese Empfindlichkeit als vorteilhafte Mutation durchgesetzt hat. Das ist aber nur reine Spekulation und es könnte sich natürlich auch nur um eine rein zufällige Koppelung dieser Merkmale handeln.